25–26 Sept 2023
Herzog August Bibliothek
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Karoline Lemke (Berlin), Elisa Cugliana (Köln) & Philipp Hegel (Darmstadt): Die Lücke im Curriculum. Wo die Rezeption (digitaler) Editionen beginnt

Die Begriffe der (historisch-)kritischen Editionen, kritischen Leseausgaben und Studierendenausgaben scheinen allgemein ihre Zielgruppe vorwegzunehmen: Studierende (zukünftige Wissenschaftler:innen) und Forschende sowie im Kultursektor Tätige und eine Handvoll Liebhaber:innen. Trotz eines stetig wachsenden Buchmarkts wird mit einer Edition, sei es die Werkausgabe oder eine Ausgabe der Briefe, nur eine relativ kleine Personengruppe erreicht, die sich, je nach Fachgebiet, noch weiter verengt. Zudem wurde die zuweilen als Hilfsdisziplin verstandene Editionswissenschaft mit ihrer langen Tradition inzwischen auch vom Digital Turn erfasst. Vor diesem Hintergrund ist die Rezeption digitaler Editionen zu verstehen und zu bedenken. Bevor wir Aussagen über Rezeptionsverhalten etc. vornehmen können, müssen wir uns als erstes die Frage stellen: für wen erarbeiten wir digitale Editionen und zu welchem Zweck? Welcher Nutzen für Studierende und Wissenschaftler:innen steht dem Arbeitsaufwand und Kostenfaktor digitaler Editionen gegenüber? Welche Auswirkungen haben die Kosten gedruckter Editionen für die Lehre? Welche Kenntnisse und Fähigkeiten müssen Nutzer:innen mitbringen? Bereits die Handhabung von Printeditionen bedarf eines Vorwissens, das nicht vorausgesetzt werden kann. Welches Propädeutikum bereitet Studierende adäquat auf wissenschaftliches Arbeiten dieser Art vor? Mit den sich wandelnden Präsentationsformen und Funktionen im Bereich der digitalen Editionen wird weiteres Know-how erforderlich. Welche Anpassungen an aktuelle Curricula müssen vorgenommen werden oder wurden bereits vorgenommen, um Studierende mit den neuesten Entwicklungen vertraut zu machen? Welche Lücken gilt es zu schließen? Mit welchen Hindernissen sehen sich nicht primär digital arbeitende Lehrende konfrontiert, digitale Editionen in der Lehre zu benutzen? Nach welcher Maßgabe sollten Print- und digitale Editionen evaluiert werden, um eine reflektierte Nutzung der editionsphilologischen Erzeugnisse zu gewährleisten? Ausgehend von den Ergebnissen einer Datenerhebung in sechs Institutionen (Text+) sowie anhand bestehender Studiengänge möchten wir das erforderliche Know-how zur Nutzung der in Editionen bereitgestellten Daten, der verwendeten Software und zur Nachnutzung für andere Projekte diskutieren. Berücksichtigt wurden bei einer Bestandserhebung Studienfächer mit den Abschlüssen Bachelor und Master, aber auch Zertifikate und andere ergänzende Studienangebote. Grundlage für die Aufnahme in die Untersuchung war die Verzeichnung in der DARIAH Course Registry. Die Liste wurde um Studienangebote ergänzt, die auf anderem Wege ins Blickfeld gerieten. Obwohl ein Viertel der betrachteten 39 Studiengänge im Bereich Digitale Geisteswissenschaften über feste Bestandteile zu digitalen Editionen verfügt, zeigte sich oftmals eine eher geringe explizite Einbindung von Fragen der digitalen Editorik in die Studiengänge. In den wenigen editionswissenschaftlichen Studienfächern werden naturgemäß die editorischen Tätigkeiten detaillierter aufgegriffen, zum Teil aber auch digitale Verfahren ausdrücklich erwähnt. Schwieriger ist die Situation in Studiengängen jenseits dieser Fächer einzuschätzen. Eine Auswertung der 28 Bachelorstudiengänge und 47 Masterstudiengänge an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln ergab, dass digitale Methode fast gar nicht erwähnt werden. Schon früher wurden wissenschaftliche Editionen wenig oder nur in sehr eingeschränkter Art genutzt (Nutt-Kofoth). Schon früher wurde beklagt, dass Editionen in der akademischen Lehre eine sehr kleine Rolle spielen und entsprechend die Kompetenzen zur Nutzung und zur Erstellung von Editionen kaum ausgebildet sind (Joost, S. 21–22). Unter digitalen Bedingungen verschärft sich die Situation, weil nicht nur Fertigkeiten im Editorischen, sondern auch zu digitalen Methoden erforderlich sind. Einer adäquaten Rezeption digitaler Editionen steht häufig der Umstand fehlender Kenntnisse gegenüber. Kenntnisse, die im Studium vermittelt werden sollten, um angehenden Forscher:innen auch in technologischer Hinsicht Selbstständigkeit und Selbstverständlichkeit zu ermöglichen, ihre Berufschancen zu verbessern und die Wahrscheinlichkeit der Nachnutzung der Edition zu erhöhen. 

Forschung

  • Ulrich Joost: „Chatoullen …, welche den vertrauten Briefwechsel … enthielten“. Die Erschließung großer Briefkorpora der Goethezeit. Probleme, Aufgaben und Möglichkeiten. In: Brief-Editionen im digitalen Zeitalter. Hg. v. Anne Bohnenkamp / Elke Richter. Berlin 2013 (= Beihefte zu Editio 34), S. 7–23.
  • Rüdiger Nutt-Kofoth: Wie werden neugermanistische (historisch-)kritische Editionen für die literaturwissenschaftliche Interpretation genutzt? Versuch einer Annäherung aufgrund einer Auswertung germanistischer Periodika. In: Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte. Hg. v. Thomas Bein. Berlin 2015 (= Beihefte zu Editio 39), S. 233–245.

The gap in the curriculum. Where the perception of (digital) editions begins 

The terms scholarly or critical edition, critical reading edition and student edition generally seem to anticipate their target group: Students (future scholars) and researchers as well as those working in the cultural sector and a handful of enthusiasts. Despite a steadily growing book market, an scholarly edition, be it an edition of works or an edition of letters, reaches only a relatively small group of people, which, depending on the discipline, narrows even further. In addition, textual scholarship, sometimes understood as an auxiliary discipline, with its long tradition, in the meanwhile also has caught up to the digital turn. It is against this background that the perception of digital editions has to be reflected upon. Before we can make statements about perception behaviour etc., we first must ask ourselves for whom do we produce digital editions and for what purpose? What are the benefits for students and scholars compared to the workload and costs of digital editions? What impact do the costs of printed editions have on teaching? What knowledge and skills do users need? Even the handling of printed editions requires prior knowledge that we cannot take for granted. What kind of preparatory course adequately prepares students for this kind of academic work? With the changing forms of presentation and functions in the field of digital editions, further expertise is required. What adaptations to current curricula do we have to make or have already made to familiarise students with the latest developments? What gaps to we have close? What obstacles do teachers who do not primarily work digitally face in using digital editions in teaching? According to which criteria should we evaluate print and digital editions in order to ensure a well-informed use of the products of edition philology? Based on the results of a data survey in six institutions (Text+) as well as on existing courses of study, we would like to discuss the necessary know-how for the use of the data provided in editions, the software used and the subsequent use for other projects. In an stocktaking survey we considered subjects with Bachelor’s and Master’s degrees, but also certificates and other supplementary study programmes. The basis for inclusion in the survey was the listing in the DARIAH Course Registry. The list was supplemented with study programmes that came into view through other channels. Although a quarter of the 39 study programmes in the field of digital humanities that were considered had fixed components on digital editions, it was often found that questions of digital editing were not explicitly integrated into the study programmes. In the few subjects related to 2 textual scholarship, editorial activities were naturally addressed in more detail, but in some cases, digital processes were also explicitly mentioned. The situation in study programmes beyond these subjects is more difficult to assess. An evaluation of the 28 Bachelor’s programmes and 47 Master’s programmes at the Faculty of Humanities at the University of Cologne revealed that digital methods are almost not mentioned at all. Based on the various findings, one can speak of a gap in the curriculum. Even in the past, scholarly editions were used little or only in a very limited way (Nutt-Kofoth 2015). Even in the past, it was lamented that editions played a very small role in academic teaching and that, accordingly, the competence for using and creating editions was hardly trained (Joost 2013, pp. 21–22). Under digital conditions, the situation has intensified because skills are required not only in editing, but also in digital methods. An adequate reception of digital editions often stands in contrast to a lack of knowledge. Knowledge that should be imparted in the course of studies in order to enable prospective researchers to become technologically independent and self-evident, to improve their career opportunities and to increase the likelihood of subsequent use of the edition. 

Research:

  • Ulrich Joost: „Chatoullen …, welche den vertrauten Briefwechsel … enthielten“. Die Erschließung großer Briefkorpora der Goethezeit. Probleme, Aufgaben und Möglichkeiten. In: Brief-Editionen im digitalen Zeitalter. Ed. by Anne Bohnenkamp / Elke Richter. Berlin 2013 (= Beihefte zu Editio 34), pp. 7–23. 
  • Rüdiger Nutt-Kofoth: Wie werden neugermanistische (historisch-)kritische Editionen für die literaturwissenschaftliche Interpretation genutzt? Versuch einer Annäherung aufgrund einer Auswertung germanistischer Periodika. In: Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte. Ed. by Thomas Bein. Berlin 2015 (= Beihefte zu Editio 39), pp. 233–245.