Die Editionsphilologie ist sich nicht nur rechtzeitig ihres „typographischen Erbes“[1] bewusst geworden, sondern hat sich seit der Gründung der Text Encoding Initiative 1987[2] auf den langen Weg gemacht, die eigenen Prämissen, Methoden und Publikationskulturen auf das digitale Paradigma umzustellen. Dieser Prozess wird nicht nur von einer großen internationalen Community getragen, sondern seit vielen Jahren konsequent weiterentwickelt. Die vor allem in den europäischen und angelsächsischen Ländern des Globalen Nordens institutionell und strukturell ausdifferenzierte Digitale Editionsphilologie versorgt auf diese Weise die Öffentlichkeit – und darin vornehmlich die Teil-Öffentlichkeiten anderer Wissenschaftsdisziplinen – mit einer hochwertigen Ressource für weitergehende Forschung und explorative Lektüren. Die Übernahme der FAIR- und TRUST-Prinzipien[3] ist dabei ebenso Teil der (zumindest größeren) Projektdesigns wie die Anwendung der aus der „Berlin Declaration of Open Access“[4] abzuleitenden Anforderungen an die Akteure und Host-Institutionen der Editionsprojekte. In den Zentren editionsphilologischer Forschung hat die Entwicklungsarbeit der letzten zwanzig Jahre immer anspruchsvollere technologische und methodologische Lösungen im Umgang mit immer komplexeren Korpora (sowohl im Textumfang als auch in der Auszeichnungstiefe) gefunden. Diese Arbeit macht ebenso Fortschritte wie der innovative Umgang mit verschiedenen, digital konzipierten Editionsmodellen und die Produktion gut dokumentierter Datenmodelle und Fortbildungsressourcen.
Die sich daraus ableitende Landschaft ehemaliger, weiterhin aktualisierter, neuerer und neuester Editionen ist beeindruckend und unübersichtlich zugleich. Die Kataloge von Sahle[5] und Franzini[6] bemühen sich seit vielen Jahren um eine Ordnung dieser Landschaft und erfassen zusammen rund 1000 digitale Projekte aus vier Jahrzehnten mit Quellen in über 50 Sprachen. Beide Kataloge zeigen nicht nur das Spektrum der durch Editionen erschlossenen Kulturepochen und Akteure, sondern bieten – trotz ihres offen eingestandenen Bias – in ihrer Zusammenstellung einen Zugriff auf das konzeptionelle, methodologische und technologische Spektrum der digitalen editionsphilologischen Produktion. Mein Vortrag nimmt diese Vielfalt zum Anlass, einen aktuellen Blick auf die Unterscheidung zwischen „Haute Couture“- und „prêt-à-porter“-Editionen[7] zu werfen und die Vielfalt aktuell eingesetzter Technologien und Arbeitsumgebungen zu skizzieren. Mit Blick auf die Bedarfe von Projektdesigns mit geringen Ressourcen – etwa bei Kulturerbeinstitutionen und DH-Akteur:innen im Globalen Süden[8] – untersucht der Vortrag Ansätze des Minimal Computing/Minimal Editing als Impuls einer DH-Community, die editionsphilologische Lehre und Forschung erleichtern, die digitale Schwellenangst von Projektbeteiligten reduzieren und Impulse zu einem „digital degrowth“ setzen wollen[9]. Es stellt sich die Frage: Wie weit sind wir auf dem Weg zu einer multilingualen, gut dokumentierten, low-tech Praxis des „open and global digital scholarly editing through minimal computing“ im Sinne einer wertebasierten „shared digital commons“?[10] Abschließend – und nicht unbedingt im Widerspruch zu den vorherigen Überlegungen – wirft der Vortrag einen Blick auf die Rolle, die für editionsphilologische Projekte relevante KI-Plattformen (Transkribus, DeepL, ChatGPT) in diesem Zusammenhang spielen könnten.
Bibliographische Angaben
Tiffany Chan / Jentery Sayers: Minimal Computing from the Labor Perspective. In: digital humanities quarterly 16 (2022), H. 2, S. 1–18. http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/16/2/000600/000600.html.
James Cummings: The Text Encoding Initiative and the Study of Literature. In: A Companion to Digital Literary Studies. Hg. von Ray Siemens / Susan Schreibman. Oxford 2008, 451-476.
Gimena Del Río Riande: Humanidades Digitales o las Humanidades en la intersección de lo digital, lo público, lo mínimo y lo abierto. In: Publicaciones de la Asociación Argentina de Humanidades Digitales 3 (2022), e038.
Quinn Dombrowski: Minimizing Computing Maximizes Labor. In: digital humanities quarterly 16 (2022), H. 2. http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/16/2/000594/000594.html.
Greta Franzini / Peter Andorfer / Ksenia Zaytseva: Catalogue of Digital Editions. The Web Application. 11. Juli 2022. https://dig-ed-cat.acdh.oeaw.ac.at/.
Tessa Gengnagel / Frederike Neuber / Daniela Schulz: Criteria for reviewing the application of FAIR principles in digital scholarly editions. In: RIDE – A review journal for digital editions and resources (2022). https://ride.i-d-e.de/fair-criteria-editions/.
Alex Gil: Interview with Ernesto Oroza. In: Debates in the Digital Humanities. Hg. von Lauren F. Klein / Matthew K. Gold. Chicago 2016.
Till Grallert: Open Arabic Periodical Editions: A Framework for Bootstrapped Scholarly Editions Outside the Global North. In: digital humanities quarterly 16 (2022), H. 2. http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/16/2/000593/000593.html.
Dawei Lin / Jonathan Crabtree / Ingrid Dillo / Robert R. Downs / Rorie Edmunds / David Giaretta / Marisa de Giusti / Hervé L‘Hours / Wim Hugo / Reyna Jenkyns / Varsha Khodiyar / Maryann E. Martone / Mustapha Mokrane / Vivek Navale / Jonathan Petters / Barbara Sierman / Dina V. Sokolova / Martina Stockhause / John Westbrook: The TRUST Principles for digital repositories. In: Scientific data 7 (2020), H. 1, S. 144.
Berlin Declaration on Open Access to Knowledge in the Sciences and Humanities. Hg. von Max-Planck-Gesellschaft. https://openaccess.mpg.de/Berlin-Declaration.
Christopher Ohge: Publishing Scholarly Editions. Archives, Computing, and Experience. Cambridge 2021. (Elements in Publishing and Book Culture).
Elena Pierazzo: What future for digital scholarly editions? From Haute Couture to Prêt-à-Porter. In: International Journal of Digital Humanities 1 (2019), H. 2, S. 209–220. https://rdcu.be/c3irf.
Antonio Rojas Castro: Contra la retórica FAIR. In: Romanistik-Blog. Das Blog des Fachinformationsdienstes. Blogbeitrag vom 28.04.2021. https://blog.fid-romanistik.de/2021/04/28/contra-la-retorica-fair/.
Patrick Sahle: A catalog of Digital Scholarly Editions. 30. November 2022. https://www.digitale-edition.de/exist/apps/editions-browser/$app/index.html.
Patrick Sahle: Digitale Editionsformen - Teil 1: Das typografische Erbe. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Norderstedt 2013. (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik, 7).
Raffaele Viglianti / Gimena Del Río Riande / Nidia Hernández / Romina de León: Open, Equitable, and Minimal: Teaching Digital Scholarly Editing North and South. In: digital humanities quarterly 16 (2022), H. 2. http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/16/2/000591/000591.html.
[1] Sahle 2013.
[2] Cummings 2008, 452–455.
[3] Gengnagel et al. 2022; Lin et al. 2020; aber auch Rojas Castro 2021.
[4] Max-Planck-Gesellschaft 2003.
[5] Sahle 2020ff [2008].
[6] Franzini et al. 2016ff [2012].
[7] Pierazzo 2019.
[8] Grallert 2022.
[9] Ohge 2021, 105 ff.; Del Río Riande 2022; Chan/Sayers 2022; Dombrowski 2022.
[10] Gil 2016; Viglianti et al. 2022.