1998 erschien die erste genuin digitale Ausgabe von Werken Goethes: ‚Der junge Goethe in seiner Zeit‘. Aufbauend auf den Texten und Kommentaren der vorausgegangen dritten Buchausgabe des ‚jungen Goethe‘ (1963–1974) integrierte die elektronische Komponente u.a. zusätzliche Fassungen, Bezugstexte und weitere Ressourcen als „Kontexte“. Wesentliches Mittel der Navigation war eine Vielzahl von Sprungverknüpfungen, vergleichbar mit Links in Internetdokumenten. Die CD-ROM mit der Folio Views-Anwendung ist auf heutigen Geräten nicht ohne weiteres benutzbar, eine spätere Internetversion ging wieder offline. Überdauert haben gleichwohl der Ruf der Ausgabe als sensationelle Innovation sowie (nicht-öffentlich) die TEI-Daten. Der ‚junge Goethe‘ war darauf angelegt, ein editorisch bereits erschlossenes Kernkorpus informativ anzureichern. Die 2009 begonnene Edition von Goethes Faust hat demgegenüber die gesamte Überlieferung von Grund auf neu bearbeitet und auf dieser Grundlage einen neuen Werktext konstituiert. Sie war explizit darauf angelegt, es sowohl den anspruchsvollsten Printeditionen bei der genauen Wiedergabe handschriftlicher Befunde gleichzutun als auch die Möglichkeiten des digitalen Mediums voll auszuschöpfen. Als Teil der Initiative zur Entwicklung eines genetischen und dokumentarischen Markups (2011 zum Teil inkorporiert in TEI P5 V. 2) trug die Faustedition dazu bei, die Möglichkeiten digitalen Edierens grundsätzlich zu erweitern. Die Relationierung des edierten Materials beruht auf einem eigens entwickelten Graphenmodell.
Der Vortrag zeichnet die Geschichte der digitalen Editionen von Goethes Werken als eine Geschichte von innovativen Neuansätzen nach. Von daher gesehen ist es konsequent, auch den intendierten Modellcharakter der Faustedition nicht dahingehend zu verstehen, dass die Edition schablonenhaft als Vorbild für künftige Projekte ähnlichen Zuschnitts dient. Folgeunternehmen zur Erneuerung der Abteilung I (Werke) der Weimarer Ausgabe werden ebenso innovativ sein wie die Vorläuferprojekte und neue Wege gehen, was reflektierte Anschlüsse an grundsätzliche Konzepte und konkrete Komponenten der Faustedition nicht ausschließt. Das Verhältnis zu bestehenden Standards wird daher wieder ein doppeltes sein: Die künftige Edition wird an Standards anknüpfen und zu deren Weiterentwicklung beitragen. Schon die Anbahnung der historisch-kritischen Edition des Faust war mit dem Vorhaben verbunden, eine entsprechende Ausgabe der Gedichte und weiterer Werke folgen zu lassen. Nach umfassender Grundlagenarbeit in Form des Gesamtinventars aller weltweit nachweisbaren Gedichthandschriften sowie vorbereitenden Untersuchungen hat 2022 das Pilotprojekt ‚Goethe LYRIK‘ begonnen. Es bietet Anlass, Erkenntnisse und Lehren aus den Vorläuferprojekten zu ziehen und in einen weiteren Kontext zu stellen.
Zweitens argumentiert der Vortrag, dass die Editionsphilologie gegenwärtig vor einer komplexen dreifachen Aufgabe steht: Sie hat den Wandel zur digitalen Editorik voranzutreiben, die Möglichkeiten der Präsentation editorischer Inhalte im digitalen Medium optimal, und das heißt auch: möglichst nachhaltig, auszuschöpfen (Bereitstellungsschicht). Zusätzlich hat sie ihre Arbeitsergebnisse als Forschungsdaten für verschiedene Weiterverwendungen zugänglich und nutzbar zu machen (Datenschicht). Auf beiden Ebenen aber sind digitale Editionen zugleich nach wie vor den hergebrachten fachlichen und editionsmethodischen Ansprüchen verpflichtet. Als Edieren lässt sich digitales Edieren vom Edieren in der Gutenberg-Galaxis daher nicht restlos entkoppeln. Im Fall Goethes (und nicht nur dort) steht sie in einer weit zurückreichenden editorischen Tradition, deren Entwicklung sich ebenfalls bereits als Innovationsgeschichte beschreiben lässt: Ein Teil des konzeptuellen Kanons der editionswissenschaftlichen Methodendiskussion 1971ff. (namentlich der Autorisationsbegriff) reagierte speziell auf Probleme der Goethe-Edition und hat seinerseits Probleme hinterlassen, denen auch digitale Editionen gegenüberstehen.
Drittens fasst der Vortrag den ‚jungen Goethe‘ und die Faustedition kontrastiv als modellhafte Vertreter unterschiedlich gerichteter Grundtendenzen und -möglichkeiten digitalen Edierens auf. Eine künftige Edition kann beide Tendenzen – den Fokus auf den Kontext und den auf das Material – zum Ausgleich zu bringen. Voraussetzung dafür ist, von bestimmten Maximalzielen mit Blick auf dokumentarische Genauigkeit zugunsten einer wieder mehr klassischen und damit standardnäheren TEI-Kodierung abzurücken. Den Schlusspunkt bildet eine These zum Problem der Standardisierung, das sich auf verschiedenen Ebenen im Rahmen des NFDI-Prozesses stellt: Wenn sie den Freiraum unterschiedlicher Repräsentationen äußerlich gleichartiger Phänomene wahrt, ist eine weitergehende Standardisierung sowohl technisch opportun als auch editionsmethodisch vertretbar.